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Differenzierung von ,,Aha-Erlebnis'', ,,Flow- Erlebnis'' und ästhetischen Erfahrung

Anscheinend ist jedes ästhetisches Erlebnis ein ,,Aha-Erlebnis'' nämlich eine innere Erkenntnis grundlegender Zusammenhänge, die plötzlich auftritt. Allerdings gibt es doch noch einen Unterschied zwischen ,,Aha-Erlebnissen'' und einem ,,ästhetischem Erlebnis''. Ein ,,Aha-Erlebnis'' kann auch bei einem Verständigungsproblem von verschiedenen Momenten auftreten, ein Verstehen von Zusammenhängen, allerdings muß dieses Erlebnis nicht als ,,schön'' empfunden werden. Auch führt es nicht zu einem ,,sich und seine Umwelt vergessen''. Ein ,,Aha-Erlebnis'' bedeutet zwar auch ein plötzliches Verständnis, aber Emotionen müssen im Normalfall nicht daran beteiligt sein, vielleicht abgesehen von einem Gefühl der Freude über das Verstehen.

Am nächsten an den Begriff der ,,ästhetischen Erfahrung'' kommt wahrscheinlich der Begriff des ,,Flow-Erlebnis'' von Csikszenmihalyi(vgl.[2]). Das Flow-Erlebnis besteht aus dem Verschmelzen von Handlung und Bewußtsein, der Verlust des Zeitgefühls und Selbstvergessenheit tritt ein. Der Handelnde ist vollständig in die Handlung vertieft. Allerdings ist das Flow-Erlebnis zielgerichtet und in der Handlung selbst, also intrinsisch, ist eine gewisse Rückmeldung enthalten, ob eine Teilhandlung gut oder schlecht war. Eine ästhetische Erfahrung muß dagegen nicht zielgerichtet sein. Sie kann plötzlich, ohne Vorwarnung und nicht handlungsbezogen auftreten. Einem Lehrer, der während des Lateinunterrichts plötzlich aus dem Fenster schauend einen blühenden Baum erblickend eine ästhetische Erfahrung hat, kann man nicht per se vorwerfen, unaufmerksam gewesen zu sein oder sich vollkommen in das Betrachten von Bäumen vertieft zu haben.

Flow wird definiert als die ,,optimale Herausforderung an das Können und Wissen eines Menschen und seine Absorption durch diese Aufgabe.'' Ein vollständiges Versinken in die Betrachtung oder das Genießen von Kunst und Musik ist sicherlich eine Absorption des Konsumenten, auch ein gewisses Können und Verstehen muß man wohl haben, wenn man Kunst oder Musik konsumiert. Können und Herausforderung setzt nach Csikszenmihalyi aber auch Regeln voraus, z.B. Spielregeln im Schach. Wie sieht das im Bereich der ästhetischen Erfahrung aus? Wenn Mollenhauer[4] in seinem Aufsatz ,,Die vergessene Dimension des Ästhetischen in der Erziehungs- und Bildungstheorie'' von einer ästhetischen Alphabetisierung spricht, meint er dann nicht die Aneignung der Regeln, das Erlernen gewisser Fähigkeiten? Wenn ein Kind das erste Wort im Leben ausspricht, dann wird es -- insbesondere von den Eltern und Großeltern -- als das schönste Ereignis der Welt betrachtet. Das gleiche Kind 15 Jahre später kann das gleiche Wort tausend mal wiederholen, ohne daß die gleichen Menschen es als schön empfinden. Aber wenn dieser Teenager sich am Klavier mit dem Konzert für Violine und Klavier abmüht, kann doch eine ästhetische Erfahrung der Eltern eintreten. Der Unterschied besteht offensichtlich aus den Vorkenntnissen und Fähigkeiten des Performanten, die Performanz enthält etwas Überraschendes.

Ein spielendes Kind lernt sehr viel. Wenn man ein Kind beobachtet, kann man oft ein Flow-Erlebnis sehen; der Beobachter wird nicht wahrgenommen, das Spiel selbst zieht die gesamte Aufmerksamkeit des Kindes auf sich. Sobald das Spiel eine Unterforderung darstellt, wird es langweilig, das Kind sucht sich etwas Neues. Ähnliches geschieht, wenn das Kind sich an etwas versucht, dem es noch nicht gewachsen ist; nach sehr kurzer Zeit verliert es das Interesse und ruft nach etwas Anderem. Nach der Definition des Flow-Erlebnisses erlebt so ein Kind im vertieften Spiel also den Flow, aber macht das Kind beim Bauen eines Lego-Hauses oder dem Anziehen von Puppen eine ästhetische Erfahrung? Normalerweise würde man das weit von sich weisen, aber rein nach der Definition von ästhetischer Erfahrung könnte man das stehen lassen. Man muß anscheinend die Definition noch erweitern, um genau zu treffen, was man meint. Aber wie will man den Begriff griffiger machen? Man könnte sagen, daß eine ästhetische Erfahrung nur bei fertigen Dingen eintreten kann. Dabei schließt man dann aber bereits Musik aus, zumindest im Moment des Erklingens. Ästhetik wäre demnach etwas wie ein Nachgeschmack. Wenn man aber davon ausgeht, daß eine ästhetische Erfahrung sowieso nur einen kurzen Moment andauert, dann wäre diese veränderte Definition unbefriedigend. Wenn man stattdessen behauptete, man könne eine ästhetische Erfahrung nur machen, wenn man etwas nicht selbst macht, würde das wiederum ästhetische Erfahrungen von Künstlern mit ihren eigenen Werken ausschließen.

Die einzige Antwort bleibt, wenn man die allgemeinen gesellschaftlichen Konventionen beachtet, daß man ästhetische Erfahrungen wirklich auf Kunst und Musik beschränkt oder natürlich daß man Flow-Erlebnisse in Kombination mit ,,Aha''-Erfahrungen mit hinzunehmen muß. Jedes für sich genommen reicht also nicht aus, aber in Kombination miteinander. So kann dann auch Csikszenmihalyis These, daß jede Handlung zu einem Flow-Erlebnis führen kann, auf ästhetische Erfahrungen zutreffen: Grundsätzlich kann jedes Fach, jede Beschäftigung zu ästhetischen Erfahrungen führen, das Erlebnis ist alleinige Sache des Betrachters.


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Thorsten Trippel
Wed May 28 12:30:18 MET DST 1997